hunde mit ängsten

Deprivationssyndrom

Der Begriff "Deprivation" bedeutet zunächst einmal nur: Mangel bzw. Entzug von etwas, das man braucht oder gerne hätte (z.B. ist jemand in Rauchentwöhnung "nikotin-depriviert").

In der Verhaltensmedizin/-therapie bezieht sich der Terminus "Deprivationssyndrom" auf die Welpenzeit: der Welpe hat einen Mangel an Umwelt- und Sozialreizen, d.h. ihm fehlen die Reize, die er für die optimale Entwicklung seines Gehirns, seiner Sinne, seines Körpers und seines Stresssystems braucht. Dies hat zur Folge, dass sein Gehirn nicht die "Werkzeuge" entwickelt, die er für das Leben benötigt, womit seine Fähigkeit, Umweltsituationen möglichst stressfrei oder überhaupt zu bewältigen, herabgesetzt ist. Kurz gesagt: ein deprivierter Welpe ist (extrem) schlecht auf sein zukünftiges Leben vorbereitet. Deprivationssyndrom ist demnach eine Entwicklungsstörung durch schweren Mangel in der Welpenzeit, wobei hier tatsächlich eine gravierende Störung gemeint ist, währenddessen bei geringerem Mangel eher von Deprivationsschaden gesprochen wird.

 

Welche Haltungsformen bewirken ein Deprivationssyndrom? Da fallen Ihnen sicherlich skrupellose, geldgierige Hundevermehrer ein, die Zuchthündinnen in kleinen Käfigen oder Stallbuchten, wo sie niemals herauskommen, als Gebärmaschinen missbrauchen, dazu deren Welpen, die den mütterlichen Stress bereits pränatal mitbekommen und ihn nach der Geburt buchstäblich mit der Muttermilch aufsaugen, die meist ohne menschlichen Kontakt in Dunkelheit und Enge aufwachsen, bis sie dann mit 8 Wochen von einem monströsen "Alien" gepackt, in eine andere dunkle Box gesteckt und aus dem Kofferraum verkauft werden ... und Tierschutzhunde (v.a. aus dem Auslandstierschutz) ... und Kettenhunde ... und Laborhunde ... und ...

 

Reizmangel in Verbindung mit Isolation kommt häufiger vor als man denkt, u.a. bei

  • ausschließlicher Haltung in Boxen oder Zwingern,
  • reiner Wohnungs-, Keller-, Stall- oder Gartenhaltung - auch Bauernhofhunde, die nichts anderes kennen als ihren Hof, weil sie nirgendwo sonst hinkommen außer zum Spaziergang rund um´s Dorf, sind in gewisser Weise depriviert (wobei dies so gut wie keine negativen Auswirkungen hat, solange die Hunde in ihrem vertrauten Umfeld bleiben).

Schwere Einschnitte im Leben eines Welpen bzw. Junghundes, die zu Deprivationsschäden führen können, stellen Traumata aller Art dar, z.B. Unfälle, Verletzungen, lebensbedrohliche Erfahrungen, Aufenthalt in einem Tierheim oder einer Tötungsstation, Mobbing unter Hunden, sowie grober, gewalttätiger Umgang durch Menschen.

Insbesondere bei (Auslands-)Tierschutzhunden, die einen neuen Platz bekommen, kann der unvorbereitete Umgebungswechsel schwer traumatisierend wirken: der Hund verliert plötzlich sein gewohntes "Zuhause" und ist somit all seiner bisherigen "Sicherheiten" beraubt (denn egal wie ausreichend oder unzureichend, gar mies auch immer jene bislang gewohnte Umgebung gewesen sein mag, war sie jedenfalls das Einzige, was der Hund kannte und woran er sich orientierte).

Hunde, die noch niemals ein Auto von innen (oder außen) gesehen haben, erfahren auf der Reise einen Schock fürs Leben und zu allem Übel werden sie oft auch noch von ungeschulten und groben Transporteuren brutal misshandelt. Als wahre "Elendshäufchen" geraten sie dann - nach all dem verheerenden Stress - in eine total fremde Umgebung, zu total fremden Menschen (und eventuell auch total fremden Tieren): kein Wunder, dass sie sich daraufhin vor lauter Schock, Schreck, Angst, Ungewissheit, Verloren- und Fremd-Sein verkriechen wollen. Und genau das ist es, was ihnen auch ermöglicht werden sollte, weil sie erst einmal "ankommen", von ihrem Extremstress herunterkommen müssen - was jedoch nicht gerade leicht ist, wenn man sich in einer komplett neuen Umgebung zurechtfinden muss! Das braucht Zeit und einen sicheren Hafen, ein Refugium, wo man durch niemanden gestört, herausgelockt oder "betüdelt" wird!

Seriöse Tierschutzorganisationen empfehlen für traumatisierte Hunde sogar ausdrücklich Rückzugsplätze - die sich der Hund ohne weiteres selbst aussuchen darf, wo er aus sicherer Entfernung alles beobachten und für sich entscheiden kann, wann und mit wem er Kontakt aufnimmt. Zudem soll es ihm möglich sein, sich jederzeit, v.a. wenn er sich ängstigt, in seine "Höhle" zurückzuziehen. Bei Hunden mit schwerem Deprivationssyndrom kann es sein, dass sie wochen-, ja monatelang in ihrem sicheren Versteck bleiben - aber das geduldige Warten und Sich-selbst-Zurücknehmen lohnt sich allemal. Nur auf diese behutsame Weise kann Vertrauen entstehen, welches die Grundlage für Beziehung und Bindung, gleichwohl fürs Lernen ist. So kann der Hund mit der Zeit und mihilfe kompetenter, einfühlsamer Verhaltenstherapie all die "Werkzeuge" entwickeln und erproben, die er für seine neue Umgebung braucht.

 

Die Auswirkungen des Deprivationssyndroms sind vielfältig, aber typisch sind Angststörungen (v.a. Neophobie, d.h. Angst vor allem Neuen) und Stressempfindlichkeit (d.h. die Toleranzschwelle ist extrem niedrig und die Stressregulation funktioniert kaum) - daraus resultiert:

  • Angst vor allem und jedem,
  • Dauerstress (teilweise so arg, dass die Hunde nicht einmal richtig schlafen können),
  • Unruhe (bis hin zu Hyperaktivität, Impulskontrollstörungen und zwanghaften Stereotypien),
  • Passivität (bis hin zur Apathie),
  • Konzentrations- und Lernfähigkeit stark herabgesetzt (v.a. anfangs quasi gleich Null).

Deshalb ist es besonders bei Deprivationshunden unerlässlich, in winzigkleinen Mini-Schrittchen vorzugehen - weniger ist mehr (und Maßstab ist immer der Hund)! Ein Deprivationshund, der vom Menschen (ganz besonders in der Anfangszeit) nicht überfordert, d.h. nicht noch zusätzlich gestresst wird, macht die positive und nachhaltige Erfahrung, dass er bei diesem Menschen sicher ist. Später wird er sich in Situationen, die ihn ängstigen, stärker am Menschen orientieren, weil er weiß, dass er mit ihm gemeinsam auch dies bewältigen oder aber genauso gut davon weggehen kann, falls ihm momentan alles noch zuviel ist.

 

Da jedoch die Folgeerscheinungen nicht nur das Gehirn, sondern ebenso die gesamte Wahrnehmung, alle Verhaltensbereiche und auch die körperliche Gesundheit betreffen, muss der therapeutische Ansatz ein ganzheitlicher sein: Es geht also nicht "nur" um Angstreduktion, sondern gleichermaßen um die Weiterentwicklung von Gehirn und Körper, damit der Hund adäquate "Werkzeuge" für sein Alltagsleben erwerben und auch anwenden kann - durch diese Stärkung des Selbstvertrauens und der Selbstwirksamkeit kann es sogar geschehen, dass sich Ängste wie von allein "auflösen" oder zumindest leichter zu bewältigen sind.

Die Verhaltenstherapie mit Deprivationshunden ist kleinschrittig möglich, aber extrem langwierig und setzt hohes kynologisches Wissen voraus. In schweren Fällen leiden deprivierte Hunde - selbst bei bester Betreuung - ihr Leben lang an psychischer Behinderung und haben erhebliche Defizite im Sozialverhalten.

Nichtsdestotrotz können Hunde mit Deprivationssyndrom später einmal glücklich sein, selbst wenn der Weg dahin extrem lang und steinig ist. Jedoch bei allen erreichten Fortschritten darf man nie vergessen, dass Deprivation nicht "heilbar" ist - diese Hunde bleiben, auch wenn manche von ihnen sehr gut kompensieren, zeitlebens mehr oder weniger gehandicapt. Aber dennoch: auf vielfältige Weise können wir ihnen mittels Stressmanagement und positiver Psychologie helfen, immer mehr Lebensqualität zu gewinnen.

© Copyright Mirjam Silber 2018

 

[Mehr über den Alltag mit Deprivationshunden siehe anhand der Geschichte von Speedy!]