Mirjam Silber, M.A.

Leben vor der Schwerbehinderung - biographische Notizen

Ein Arbeiterkind im "roten" Wien der 1960er-/1970er-Jahre

Meine Familie war eine typische Arbeiterfamilie im - seinerzeit - sozialistischen Wien: arm und bildungsfern, aber stolz auf ihre proletarische Herkunft. Meine Mutter, sel. A., hatte bloß 8 Jahre Volksschule absolviert und arbeitete - als mehrfachbelastete berufstätige Hausfrau und Mutter zweier Mädchen - ihr ganzes Leben lang hart, anfangs als Telefonistin, später als Verkäuferin. Während meiner Schul- und Studienzeit hatte ich immer wieder Ferienjobs in dem Geschäft, in dem sie arbeitete, was mir Begriffe wie z.B. Präkariat und Standesdünkel hautnah vermittelte. Mein Vater, sel. A., war Silberschmied (nomen est omen) und fertigte wunderschöne Sachen aus Silber an. Als jedoch die echte Handwerkskunst immer mehr von maschinellen Erzeugnissen verdrängt wurde, suchte er sich gezwungenermaßen eine neue Arbeit und wurde Taxifahrer (rückblickend war das einzig für mich von Vorteil, weil ich dadurch immer kostenfrei mit dem Taxi nach Hause gebracht wurde, wenn ich im Theater oder in der Oper war, für mich als Teenager klarerweise echt leiwand - für meinen Vater dagegen war das ständige nächtliche Fahren extrem anstrengend, vielleicht mit ein Grund, warum er leider schon mit 63 Jahren an einem Herzinfarkt starb).

Im selben Jahr, als der Nazijäger Simon Wiesenthal im Auftrag der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sein "Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes" gründete (1961), wurde ich geboren. Meine Eltern waren überzeugte Sozialdemokrat:innen und somit prägten die sozialdemokratischen Ideen und Ideale auch mein Leben (als Erwachsene hingegen sympatisierte ich dann eher mit den Wiener Grünen). Damals aber war es selbstverständlich, den Maiaufmärschen beizuwohnen und zum 1. Mai rote Fahnen mit dem sozialdemokratischen Logo an den Fenstern zu hissen. Als Kind gefielen mir die 3 Pfeile im Kreis ganz besonders, wobei ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch keine Ahnung von deren Symbolik hatte, aber ich spürte den Stolz, mit dem meine Eltern diese geschichtsträchtigen Fahnen jedes Jahr wieder an den Fensterrahmen befestigten.


Kleiner historischer Exkurs

Quelle: Das Rote Wien

Ursprünglich waren die drei Pfeile ein Kampfzeichen der sozialistischen Revolutionär:innen gegen reaktionäre Gesinnung, Kapitalismus und Faschismus. Während der NS-Zeit wurden mit diesen drei Pfeilen bspw.  Hakenkreuze übermalt und signalisierten somit den Widerstand gegen die Nazis. Erst nach 1945 kam der Ring hinzu, welcher die Einheit der sozialistischen Arbeiterschaft darstellte (Industrie-, Land- und geistige Arbeiter:innen).


Quelle: Der Standard

Quelle:  w24.at

Quelle: Austria Forum



Ich war ein sehr intelligentes und auch sehr sensibles Kind, das stundenlang mit sich selbst spielen konnte und sich dabei u.a. hingebungsvoll mit der Natur und später - als ich lesen gelernt hatte - auch mit Büchern beschäftigte.

Links: Mit einer Tante (väterlicherseits), sel. A., wobei ich da offensichtlich grad nicht besonders glücklich dreinschaue.  Rechts: Mit meiner Oma (mütterlicherseits), sel. A., die sich sehr viel um mich kümmerte, die Gute, da meine eigene Mutter ja ganztags arbeiten war. 

Am liebsten spielte ich - wenn ich nicht grad im Sand und Gatsch herumbuddelte - mit Matchbox-Autos und Lego-Bausteinen. Für Puppen interessierte ich mich kaum, da waren mir Stofftiere lieber. Aber ich hatte eine Schwarze Puppe, die ich innig liebte - natürlich wurde sie beim Konzert in der Volksschule als "mein Baby" mitgenommen, was - wie ich später als Erwachsene von meiner Mutter erfuhr - nicht von allen Lehrerinnen [damals gab's tatsächlich nur Lehrerinnen] gut geheißen wurde. Der Grundstein für meine plurikulturelle Einstellung wurde da wohl schon gelegt. Faszinierend finde ich aus jetziger Perspektive, dass heutzutage in der diskriminierungskritischen Erziehungs- und Bildungsarbeit quasi als pädagogisches Novum gefordert wird, Kinder mit multikulturellen Puppen, Figuren usw. spielen zu lassen - das finde ich auch richtig so, doch ich hatte eben schon in den 1960er-Jahren eine Schwarze Puppe. Aber meine Eltern hörten auch viel Rock 'n' Roll und Swing, also Musik von und mit Schwarzen Menschen ...

Auch aus anderer Sicht (nämlich Gender Studies) ist dieses Foto beachtenswert, zeigt es doch deutlich die - leider bis heute noch bestehende - stereotype Rollenzuschreibung für Frauen: "Mutter und Hausfrau".

"Wir sind jung, die Welt ist offen ..." - Jugend bei den Kinderfreunden

Religion spielte bei uns überhaupt keine Rolle, auch unsere jüdische Familiengeschichte wurde nie thematisiert - bis heute weiß ich leider nur Bruchstücke davon (bin damit jedoch kein Einzelschicksal, denn bei vielen Familien wurde über die Traumata der Shoah nicht gesprochen). Das ist aber andererseits der Grund, warum ich nicht beim Haschomer Hatzair, sondern - wie es sich für eine "rote" Familie gehörte - bei den Wiener Kinderfreunden sozialisiert wurde.


Die Kinderferienlager waren für mich immer Highlights: Gemeinschaft, Spielen, Wanderungen, Naturerfahrungen, Lagerfeuer und Singen! Ich war so begeistert, dass ich später im Jugendlichen- und Jungerwachsenenalter viele Jahre immer wieder als Erzieherin mit den Kinderfreunden in die Ferien fuhr. Natürlich hätte es weit besser bezahlte Ferialjobs gegeben, aber für mich brachte die Philosophie der Kinderfreunde auch einen Perspektivwechsel weg von vorsintflutlichen Erziehungsstilen, die auf Dominanz, Gewalt und Willkür beruhten (von Alice Miller als "schwarze Pädagogik" beschrieben). Bei den Kinderfreunden lernte ich eine positive Pädagogik kennen, bei der individuelle Stärken gefördert anstatt Schwächen bekämpft werden, bei der das Erleben und Ausprobieren im Vordergrund steht und positive Erfahrungen bewirken, dass wir uns gut fühlen.

Ich wurde dort auch mit Basisdemokratie, Gleichberechtigung, Abkehr von patriarchalen Strukturen, Diversität, sozialer Gerechtigkeit, Freiheit etc. "infiziert" - alles Werte, die mich bis heute prägen und für die ich sehr dankbar bin. Zudem lernte ich kritische Lieder kennen, die mich - mit meinen weltverbesserischen Gedanken - inspirierten (Hanns Eisler, Berthold Brecht, Wolf Biermann, Bettina Wegner, Pete Seeger, Bob Dylan, Joan Baez u.v.a.m.) und natürlich sangen wir auch die Songs der Beatles und Rolling Stones rauf und runter;-)

Klarerweise kann ich das "Kinderfreunde-Lied" bis heute auswendig:

/.../ Bruder [seinerzeit wurde noch nicht "gegendert"], lass den Kopf nicht hängen,

kannst ja nicht die Sterne seh'n.

Aufwärts blicken, vorwärts drängen,

wir sind jung und das ist schön.

Ich denke, grad dieses "aufwärts blicken, vorwärts drängen" war und ist stets ein wesentlicher Motor in meinem Leben - deshalb bin ich auch so viel herumgereist und bis heute ist für mich die Welt offen.

Wie das Leben so spielt ...

Als Zweijährige ist mir eine Katze zugelaufen (noch dazu eine "Glückskatze" in weiß-rot): "Datzi domm", soll ich gesagt haben und von da an war Mirli meine beste Freundin und dies war der Beginn meiner lebenslangen Liebe zu Tieren. Danach hatte ich ein kleines süßes Pudelchen und immer wieder Katzen ...

Auch bei unseren Urlauben war ich ständig inmitten von Tieren, zumeist bei den Pferden, Ziegen, Schafen und Kühen auf den Weiden (ich kann übrigens auch Kühe melken). Unsere Verwandten im Wein- und Waldviertel hatten immer auch Hühner und Kaninchen und selbstverständlich weigerte ich mich, meine Freunde und Spielkameraden zu essen.

Bei Zoobesuchen wurde mir andauernd schlecht, weil ich das Leid der Tiere in den engen Käfigen nicht ertragen konnte. So entstand bereits früh meine feste Meinung, wer sich nicht richtig (d.h. tiergerecht) um ein Tier kümmern kann/will, soll sich lieber ein Stofftier anschaffen - und davon hatte ich auch jede Menge!

Mit Verve war ich auch stets dabei, andere über meine Ansichten für eine bessere Welt aufzuklären - das hat sich bis heute nicht geändert;-) Lehre liegt mir offensichtlich - nicht umsonst war ich Gymnasiallehrerin, Referentin in der Erwachsenenbildung und schließlich Universitätsdozentin:-)

Eigentlich wollte ich ja Tierärztin werden, nu, das stimmt nicht ganz, denn meine Idee - zunächst inspiriert durch die TV-Sendung "Daktari", später dann durch Dian Fossey und Jane Goodall - war es, Tierforscherin zu werden und im Dschungel zu leben. Da meine Eltern davon weniger begeistert waren, förderten sie mehr meine anderen Talente, v.a. meine Musikbegabung. Die Brüder meines Vaters spielten neben ihren Brotberufen zum Tanz auf (Schrammelmusik, aber auch Schlager und Rock 'n' Roll), mein Vater selbst war zwar nicht besonders musikalisch, aber sein musisches Talent lag ja auf dem Gebiet der bildenden Künste. Immerhin hörten meine Eltern sehr gern gute Musik (bspw. war die Jazzsendung mit Walter Richard Langer jeden Sonntag nach dem Mittagessen ein Pflichttermin, den wir alle nur zu gern wahrnahmen). Sie legten auch immer wieder mal einen flotten Rock 'n' Roll auf's Parkett, dass uns Kindern die Luft wegblieb! Zudem war meine Mutter opernbegeistert (sie hatte selbst eine schöne Stimme, kannte Opern jedoch nur aus dem Fernsehen - Arbeiterfrauen waren damals höchstens mal in der Volksoper, hingegen keinesfalls in der Staatsoper). Ich war als Jugendliche mehrmals wöchentlich in der Staatsoper - auf Stehplatz, eh klar (beim stundenlagen Anstellen und Warten vor dem Opernhaus hatte ich Gelegenheit, das Libretto und den Klavierauszug der jeweiligen Oper zu studieren, um mich während der Vorstellung ganz dem Musikgenuss hinzugeben). So verbrachte ich mehr Zeit vor und in der Oper als in der Schule, was sich folglich auch in meinen Zeugnisnoten widerspiegelte, doch das war mir herzlich egal, denn ich schwebte quasi in anderen Sphären;-)

Seit meiner Kindheit hatte ich andere mit meinem Singen beeindruckt - die Schlager und Popsongs wichen immer mehr den Musicals und schließlich den Opernarien, weshalb ich denn doch - neben dem Studium in Musikwissenschaft und Musikpädagogik -  noch ein Gesangsstudium an der Musikuniversität Wien absolvierte.

Auch wenn aus meinen früheren Träumen von Veterinärmedizin und Zoologie nichts geworden ist, hat mich aber meine Tierliebe nie verlassen. Immer lebte ich zumindest mit Katzen zusammen (selbstverständlich aus dem Tierschutz), außerdem hatte ich auch mal Farbratten (Babys von Laborratten), die bei mir nicht nur eine riesige, gut ausgestattete Voliere bewohnten, sondern täglich Freilauf und Spielen genießen durften und liebend gern mit mir kuschelten. 


Meinen allergrößten Wunsch erfüllte ich mir als junge Erwachsene, nachdem ich mein Studium abgeschlossen und als Vollzeitlehrerin über ein geregeltes Einkommen verfügte: Im Weinviertel auf einem kleinen Bauernhof lebend hatte ich nicht nur Hund' und Katz', sondern auch Pferde und Schafe. Die Hündin nannte ich Kallisto, sie wurde (ausnahmsweise) bei einer Züchterin gekauft, da ich mich in die Rasse "Eurasier" verliebt hatte. Besides: Bei den Seminaren des Eurasierverbandes lernte ich übrigens auch Prof. Kurt Kotrschal kennen, den späteren Wolfsexperten und Gründer des Wolf Science Center in Ernstbrunn, damals und bis heute ein Eurasier-Fan.

Mein Pferd, einen Traberwallach, hatte ich vom nahegelegenen Reiterhof, wo ich schon seit einiger Zeit Reitstunden nahm - ich nannte ihn Whiskey. Tatsächlich ging er - wie das gleichnamige Pferd in dem alten Film mit Kirk Douglas - mit mir durch Dick und Dünn, was aber wohl in erster Linie daran lag, dass ich mich mit ihm intensiv beschäftigte, auch sehr viel spielerisches Bodentraining mit ihm machte und natürlich viel mit ihm kuschelte, was alles eben unsere Bindung verstärkte. Da Pferde Herdentiere sind, ich aber nicht mit so viel Reichtum gesegnet war, um mir mehrere Pferde leisten zu können, nahm ich nur ein zweites Pferd dazu (Sunny war bei den Kindern recht beliebt) und zwei Heidschnuckenschafe, alle Tiere zusammen in Offenstallhaltung mit großer Freilauf-Koppel, außerdem gab's auch regelmäßigen Weidegang. Meine Ausritte mit Whiskey "wild in der Geografie" habe ich immens genossen - Paradies auf Erden mit Pferden!

Doch zurück zu meiner Familie: Das Ziel meiner Eltern war, ihre Kinder sollten es mal besser haben, weshalb sie beiden Töchtern den Besuch des Gymnasiums mit Matura-Abschluss ermöglichten (für eine Arbeiterfamilie seinerzeit ganz und gar nicht selbstverständlich; immerhin profitierte ich von der Bildungsreform unter Bruno Kreisky, durch die auch Kindern aus sozial schwächeren Familien eine höhere Bildung offenstand).

Als meine ältere Schwester und ich Jugendliche waren, hieß es in unserer Familie aber stets, ich sei die intelligentere von uns beiden, weshalb nur ich studieren dürfe, meine Schwester hingegen musste nach der Matura arbeiten gehen (da brachte auch Kreiskys Reform nichts, wenn Arbeitereltern zu wenig Geld verdienten, um beide Kinder studieren zu lassen). Damals verstand ich nicht wirklich, was das bedeutete, aber rückblickend weiß ich, dass dies der Anfang vom Ende unserer bislang richtig guten schwesterlich-freundschaftlichen Beziehung war.

Andererseits hätten wir uns irgendwann sowieso auseinandergelebt, denn das "geregelte Leben", das meinen Eltern für mich vorschwebte, das war echt nichts für mich.

Wie dem auch sei, jedenfalls hat mich stets Musik begleitet: Aus dem ersten "Klimpern" auf der Gitarre wurde später dann ein Studium in klassischer Konzertgitarre an der Musikuniversität Wien.

Meine Laufbahn als Gitarristin für Alte Musik nahm aber leider ein jähes Ende, da das Carpaltunnel meiner rechten Hand nicht und nicht mitspielen wollte (trotz zweimaliger Operation und viel Physiotherapie) - das war also meine erste Erfahrung mit Lähmungen, tja, wie das Leben eben so spielt ...


Langjähriger und erfolgreicher war meine Karriere als Sängerin: Schon während meines Gesangsstudiums an der Musikuniversität Wien gab ich immer wieder Liederabende - zunächst träumte ich ja von der großen Oper, doch dafür waren weder meine stimmlichen noch meine nervlichen Qualitäten geeignet, also entwickelte ich mich immer mehr hin zu dem Genre, das mir wirklich lag: über Wiener Lieder und wienerisch-jüdische Kabarettchansons kam ich schließlich zur Klezmermusik und zu jiddischen Liedern.

Echt viel Spaß hatte ich als Sängerin mit meinem Wiener Schrammel-Trio (Josef Stefl - Knöpferlharmonika, Peter Tunkowitsch - Kontragitarre, Willi Hirsch, Violine) - damals war ich ja noch so eine richtig fesche Rothaarige;-)

Mein sehr, sehr buntes Berufsleben

In meinem "früheren" Leben (d. h. vor meiner behinderungsbedingten Frühpensionierung) war es mir zum Glück möglich, in mehreren hochinteressanten Bereichen tätig zu sein: in Bibliotheken und Archiven, an der Universität als Wissenschaftlerin, Doktorandin und Lehrende, in der Erwachsenenbildung an Volkshochschulen, freiberuflich als Ethnomusikologin, Voice-Coach und Sängerin. Diese polychrome Lebensgestaltung war zwar keine Berufslaufbahn im herkömmlichen Sinn, erlaubte mir aber, meine vielschichtigen Talente, Kenntnisse und Fähigkeiten auszuüben.

Die Begeisterung für Bücher begleitet mich schon seit meiner frühesten Kindheit - ständig hatte ich etwas zu lesen dabei (das ist heute immer noch so)! Nach vielen Jahren als Lehrerin hatte ich schließlich genug von Schule (bzw. vom österreichischen Schulsystem), machte einen radikalen Schnitt und war von da an im Bibliotheks- und Archivwesen tätig. Ich liebte den Beruf als Bibliothekarin/Archivarin sehr und absolvierte zudem den einjährigen postgradualen Universitätslehrgang "Library and Information Science" an der Österreichischen Nationalbibliothek.


Nach mehrjähriger Bibliotheksleitung am Wien Museum und wissenschaftlichen Archivierungsprojekten, z. B. in der Bibliothek des Jüdischen Museums Wien sowie am DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes), arbeitete ich zuletzt als Archivarin am Phonogrammarchiv der ÖAW (Österreichische Akademie der Wissenschaften), wo ich für die Katalogisierung der jüdischen Sammlungen und die Transkription jiddischer Interviews zuständig war.

Vom Phonogrammarchiv wurde ich auch mit Aufnahmegeräten für die Feldforschung zu meiner Dissertation über die jiddische Vokaltradition der Chassidim ausgestattet. Das PhD-Studium in Ethnomusikologie an der Musikuniversität Wien war die logische Folge meiner wissenschaftlichen und künstlerischen Betätigung, die sich in erster Linie um jiddische Lieder drehte.


Lange Jahre war ich Wissenschaftsassistentin und Lektorin für diverse musikethnologische Feldforschungsprojekte zur jüdischen Musik in Osteuropa (v.a. Ukraine und Moldawien) im Wiener Kulturverein Varwe Musica.

Daneben betrieb ich immer auch eigene Forschungen zur jiddischen Kultur in Wien (insbes. bei den Chassidim), welche u. a. von Wien Kultur gefördert wurden.


Durch meine Forschungsarbeiten bei den Chassidim hatte ich mir im Wissenschaftsbereich schon einen guten Namen gemacht, weshalb ich von Herrn Prof. Klaus Davidowicz, dem damaligen Leiter des Instituts für Judaistik an der Universität Wien, angefragt wurde, ob ich nicht eine Vorlesung halten wolle - natürlich wollte ich! So entwickelte ich Inhalte zum Thema "A gants yor freylekh", oder: Zum mystischen Konzept der Freude im Chassidismus und wurde Universitätsdozentin. Ich referierte über Geschichte und Wesen des Chassidismus, chassidische Mystik, insbes. das Konzept von Simchah (Freude), Hitlahawut (Ekstase) und Dewekut (Anhaften an Gott), über die Funktion des Rebben (Zaddik) und über heutige chassidische Gruppen (mit Schwerpunkt auf Chassidut Wischnitz). Ich brachte auch eine kurze Einführung zu jiddischer Sprache und jiddischen Liedern, erläuterte die Rolle der Musik im Chassidismus und legte - anhand vieler Musikbeispiele - den Bezug chassidischer jiddischer Lieder (Niggunim) zum jüdischen Brauchtum, zur jüdischen Religion und chassidischen Mystik dar. Außerdem lud ich Wischnitzer Chassidim, die in Wien lebten, zu Gesprächsrunden ein, weil es mir wichtig war, dass chassidische Insider zu Wort kommen. Also referierte auch ein langjähriger Freund von mir, Salomon Kohn, ein Sofer, bei uns am Institut für Judaistik und Jakov Indik, damals Maschgiach im jüdischen Seniorenzentrum Maimonides, besuchten wir direkt an seiner Arbeitsstätte. Für meine Studierenden war es hochinteressant und lehrreich, "echte" Chassidim kennenzulernen, mit ihnen zu sprechen und Informationen aus erster Hand zu erhalten. Diese Begegnungen und meine praxisbezogene Unterrichtsgestaltung (mit Liedern, Musik, Videos etc.) machten die Vorlesung besonders spannend und die Studierenden kamen immer freudig zu den Terminen, obwohl es de facto keine Anwesenheitspflicht gab. Auch ich hatte viel Freude als Universitätsdozentin, doch leider war mir eine Weiterführung aufgrund der Schwerbehinderung nicht möglich. Aus der Traum.

Als Musikerin im Klezmer-Ensemble Scholem Alejchem war ich über 10 Jahre lang nicht nur "Frontfrau", Sängerin und Moderatorin, sondern ebenso Event- und Konzertmanagerin - wir hatten Auftritte in Wien und ganz Österreich, unternahmen auch viele Konzerttourneen ins Ausland (häufig nach Moldavien und in die Ukraine) und waren auch immer wieder bei internationalen Klezmerfestivals zugegen.

Das Hineinwachsen in die jüdische Musik wurde für mich persönlich gleichzeitig auch eine Reise in meine jüdische Identität. Jiddisch lernte ich an der Jüdischen Volkshochschule und an der Universität Wien, mein Wissen um jüdische Kultur und Symbolik bildete ich bei Rabbinern, jüdischen Lehrer:innen, jüdischen Freund:innen und Bekannten, nicht zuletzt durch Fachliteratur und Studien an der Universität aus. Und vor allem besuchte ich regelmäßig die Synagoge, den wunderschönen Wiener Stadttempel, damals noch mit Oberrrabbiner Paul Chaim Eisenberg, der mir die Ehre zuteil werden ließ, dass auch ich in der Kleingruppe seiner Privat-Shiurim bei ihm Zuhause mit dabei sein durfte.

Bei all dem blieb mir immer noch Zeit, um in meiner eigenen Coaching-Praxis Voice&Bodywork Stimmbildung, Präsentationstechnik und Qigong zu unterrichten sowie an Volkshochschulen Kurse für jiddische Lieder, Klezmer-Folkloretänze, Qigong und Meditation zu leiten. Außerdem war ich langjährig (und zumeist ehrenamtlich) im Antirassismusbereich tätig, nicht nur am DÖW, sondern v.a. bei ZARA - Zivilcourage und Antirassismus-Arbeit, der Beratungsstelle für Opfer und Zeug*innen von Rassismus, wo ich rassistische Beschmierungen im öffentlichen Raum dokumentierte, Geflüchtete bei Behördengängen unterstützte und DaF (Deutsch als Fremdsprache) unterrichtete.


Meine ganze Seele gehörte damals der Musik und dem Gesang - bei Scholem Alejchem fand ich mein musikalisches Zuhause. Wir hatten ein breites Repertoire aus Klezmermusik und jiddischen, hebräischen und sefardischen Liedern, dazu noch Couplets aus Wiener Volkskomödien und auch wienerische sowie jiddische Kabarettchansons - eine herrlich magische Atmosphäre!

Natürlich soll Musik auch unterhalten, aber unsere Intention war es, über Jiddischkajt aufzuklären, durch die Musik und die Lieder (die ich für das Publikum immer übersetzte und erläuterte) jüdische Feiertage, jüdische Symbole, Gebräuche und Rituale zu erklären - wie Themenkonzerte. Dank meines besonderen wienerisch-jiddischen Charmes gelang mir das recht gut:-)

Auf unseren Reisen nach (Süd-)Osteuropa waren wir immer wieder auch Gäste in Synagogen, wo wir gemeinsam mit lokalen Musiker:innen Konzerte gaben. Isaak Loberan, der Gründer und Leiter von Scholem Alejchem, erforschte und sammelte nicht nur jüdische Musik, sondern organisierte auch internationale Klezmer-Workshops. Der Austausch untereinander und das Musizieren miteinander ... bereichernd und schön - einfach wundervoll:-)

Oben und Mitte links: Synagoge in Bukarest, 2005

Mitte rechts: Stadttheater Kiew, mit den "Galizianern", 2006

Unten: "A jiddische chasene" im Theater Vorstadt, 2002

Selbstverständlich war Scholem Alejchem auch steter Gast beim Klezmer-Festival "Klez Vienna" und bei den Wiener Jüdischen Kulturwochen.


Für uns hatte Musik neben der Entertainment- und Bildungsfunktion auch noch einen soziopolitischen Aspekt, weshalb wir immer wieder bei Veranstaltungen zum Gedenken, zum Widerstand, zu gesellschaftskritischen Anlässen, zu ökumenischen und interkulturellen Festivitäten auftraten.